Interview mit Matthias Schmidig

30. Juni 2022

Im zweiten Anlauf hat es geklappt. Matthias Schmidig wurde im Rahmen der Bieler Lauftage überlegen Schweizer Meister über 100 km.

Wie hast du «deinen» Tag (oder besser: deine Nacht) erlebt? Kannst du uns Einblick in dein Rennen und deine Gefühlswelt geben?

Der Renntag verlief ziemlich entspannt und ohne grosse Nervosität. Ich habe mich sehr auf die Nacht der Nächte gefreut. Da an einem Ultra-Marathon viel Unerwartetes passieren kann, machte ich mir natürlich schon Gedanken, was und zu welchem Zeitpunkt geschehen könnte. Gleichzeitig wusste ich, dass ich gut vorbereitet und ready für das Rennen bin.

Die Minuten von dem Start sind für mich immer unglaublich schön und emotional. Ich fühle mich stets als Teil einer grossen Gemeinschaft und freue mich auf einen gemeinsamen Lauf mit Gleichgesinnten, die dieselbe Leidenschaft teilen. Es fühlt sich nicht wie ein eigentliches Rennen gegen Konkurrenten an. Man tauscht sich aus und wünscht sich gegenseitig viel Glück und Freude für den bevorstehenden Lauf.

Nach dem Startschuss um 22:00 Uhr setzte ich mich zusammen mit dem letztjährigen Sieger an die Spitze. Zusammen liefen wir durch Biel, angefeuert vom grossen und lauten Publikum. Bis etwa zur Rennhälfte legten wir eine solide Pace an den Tag. Meine Beine fühlten sich gut an, und es war schön, gemeinsam mit einen mir bekannten und starken Läufer unterwegs zu sein. Wenig später fand ich mich schliesslich alleine an der Spitze. Die Beine wurden immer schwerer und die Muskulatur verhärtete sich etwas. Ich hoffte, dass ich von Krämpfen verschont bleiben würde.

Ab km 70 realisierte ich das erste Mal, dass ich mit dem komfortablen Vorsprung das Rennen gewinnen kann. Ich konzentrierte mich in der Folge darauf, genügend Flüssigkeit und Energie zu mir zu nehmen und nahm etwas Tempo raus. Auf den letzten Kilometern beflügelte mich die stimmungsvolle Morgendämmerung zusätzlich, und ich war einfach nur glücklich und froh im Ziel anzukommen. Wirklich realisiert habe ich den Erfolg zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht.

Du bist die 100 km mit durchschnittlich 4:31 Min./km gelaufen. Wie sah dein Trainingsprogramm aus? Was ist deine Trainingsphilosophie?

Normalerweise absolviere ich wöchentlich 5-6 Trainings. Dabei achte ich auf eine Variation von Intensität und Umfang in den einzelnen Trainingseinheiten. Nebst dem Lauftraining beinhaltet meine Vorbereitung auch das Fahren auf Rennrad und Mountainbike. Damit kann ich andere Reize setzen und reduziere zugleich die Belastung der Gelenke, die beim Laufen auftritt. Zudem macht es mir einfach auch mehr Spass, etwas Abwechslung in den Trainingsalltag einzubauen. Die Laufumfänge habe ich jedoch bewusst etwas erhöht, damit Muskulatur, Gelenke und Füsse auf die 100km vorbereitet sind. Pro Woche sind es rund 60-80 Lauf- und 300 Radkilometer.

Einen Trainingsplan habe ich nicht. Ich trainiere nach Gefühl, Lust und Laune. Für mich steht der Spass an der Bewegung im Vordergrund. Ich versuche immer gut auf meinen Körper zu hören und gönne ihm die nötige Erholung. Hier gäbe es sicher noch Potential für Optimierungen.

Viele Läufer spielen mit dem Gedanken, mindestens einmal im Leben an einem Ultralauf teilzunehmen. Welches sind deine wichtigsten Tipps, damit dieses Vorhaben gelingt?

  1. Einen Ultra erfolgreich zu laufen, benötigt eine gute und gezielte Vorbereitung. Regelmässiges Training ist unumgänglich. Dabei ist es wichtig, die Trainingsumfänge langsam zu steigern, um keine Verletzungen oder Überbelastungen zu riskieren. Die Vorbereitungen sind sehr zeitintensiv, das heisst, man muss genügend Zeit einplanen und bereit sein, andere Aktivitäten unterzuordnen.
  2. Man sollte stets die Freude am Laufen als Antrieb haben. Es soll letztlich Spass machen und nicht in einer Tortur enden. Natürlich muss man manchmal den inneren Schweinehund überwinden und auch bereit sein, beispielsweise bei Nässe oder Kälte die Laufschuhe zu schnüren. Mit der richtigen Einstellung macht jedoch auch das Spass.
  3. Nebst der körperlichen Vorbereitung sollte man sich auch mit mentalen Aspekten auseinandersetzen. Fragen wie „Wie motiviere ich mich unterwegs?“ oder „wie gehe ich mit Tiefs um?“ usw. sollte man sich vorher stellen, um das Rennen besser geniessen zu können. Bei Ultraläufen stellt man sich gewöhnlich nicht die Frage, wann eine Krise eintritt, sondern wie man damit umgehen wird. Denn sie wird ganz bestimmt eintreten.

Welches sind in deinen Augen ganz grundsätzlich die 3 wichtigsten Punkte, die zum Erfolg führen?

  • Die Freude an der Bewegung sowie ehrgeizige und erreichbare Ziele
  • Gute Vorbereitung (Körper, mental, Material, Streckenprofil)
  • Eine positive Einstellung während den Trainings und dem Rennen - lächle :-) 

Gibt es einen Geheimtipp, den du uns preisgeben kannst?

Geheimtipps habe ich eigentlich keine. Jeder Athlet ist individuell und anders. Daher muss jeder selbst herausfinden, welches Material am besten passt, welche Trainingsformen effizient sind oder welche Ernährung einem guttut. Den eigenen Körper kennen und auf ihn zu hören ist für mich aber sehr wichtig. Ich achte auf eine ausgewogene und gesunde Ernährung. Auf Fleisch verzichte ich, und ich habe den Verzehr tierischer Produkte reduziert. Dies hat sich sehr positiv auf meine Regeneration ausgewirkt.

Eine positive Einstellung kann sehr wirkungsvoll sein und überträgt sich auf die Leistungsfähigkeit des Körpers. Lege den Fokus auf das Erreichte. Betrachte Rückschläge als Chance dazuzulernen und weiterzukommen. Habe Freude und sei dankbar für jeden Schritt, den du machen kannst und darfst…

Foto: zvg